Der Kollaps des neoliberalen Triumphkapitalismus

 In Spätkapitalistische Systementwicklung

Die tiefe und umfassende Krise, in der sich das globale kapitalistische Wirtschaftssystem befindet, führt erwartungsgemäß zu gravierenden Verkehrungen und Verrücktheiten auf der ideologischen Deutungs- sowie auf der politischen Handlungsebene:

Anstatt die systemstrukturellen Ursachen der ‚Finanzkrise’ zu begreifen oder auch überhaupt nur zu thematisieren, wird von Politikern und Medien eine Mischung aus Inkompetenz und Habgier seitens der Banker, Finanzjongleure, Topmanager etc. angeprangert und durch dieses personalisierende Deutungsmuster die kapitalimmanente Krisenlogik einmal mehr verzerrt bzw. unkenntlich gemacht. „Systemverteidigung durch Schelte seiner finanzökonomischen Spezialelite“ könnte man diesen Diskurs prägnant umschreiben. Nun leugnet niemand die Gier und obszöne Bereicherungssucht der diversen Finanzakteure (Boni-Hassadeure). Doch auch diese Charakteristika sind nur eine besondere Personifikationsform der Rastlosigkeit kapitalimmanenten Profitstrebens und nicht die tiefer liegende Ursache des aktuellen Übels.

Tatsächlich nämlich ist die ‚Finanzkrise’ nur die Erscheinungsoberfläche des Zusammenbruchs eines phasenspezifischen Strategiemodells, mit dessen Hilfe das globalisierte Kapital über lange Zeit versucht hat, die Überakkumulation von Produktivkapital und den dadurch bedingten realwirtschaftlichen Profitratenfall durch Aufblähung des Kredit- und Finanzsektors zu kompensieren. In dem Maße, wie die klassische Reinigungsfunktion der zyklischen Wirtschaftskrisen sich in den letzten Jahrzehnten als zunehmend defekt erwies, um die angestauten Disproportionen zu beseitigen (Ko-Evolution von Absatzkrise und Arbeitsmarktkrise), sollte der Widerspruch zwischen Produktion (ausgestoßene Warenmenge) und Markt (zahlungskräftige Nachfrage) mit Hilfe der Aufblähung eines Massenkreditsystems überwunden werden. Als funktionales Pendant der spätkapitalistischen Massenkultur des Habens und der permanenten warenästhetischen Konsumanreize wurde eine tendenziell bargeldlose „Kreditgesellschaft“ induziert mit einer Fülle von Kreditkarten, Einräumung von Kontoüberziehungsmöglichkeiten, Kundenkrediten der Warenhausketten, Lockangebote der Banken mit scheinbar günstigen Anschaffungs- und Baukrediten etc. Hinzu kommt die gesetzmäßige Ausdehnung des Gesamtvolumens von Investitionskrediten für das produzierende Kapital infolge der wachsenden technischen Zusammensetzung des Kapitals (Erhöhung der Vorkostenkredite des Kapitals). Je höher die Vorkostenkredite, umso gravierender der Ausfall beim Einritt von Insolvenzen.

Auf dieses aufgeblähte Kreditsystem mit seinen unzähligen Schuldverschreibungen wurde nun obendrein eine unüberschaubare Menge von Finanzprodukten gepfropft, die wiederum die Geldmärkte beflügelten -bis dieses dichte Netz schließlich wieder realökonomisch zerrissen wurde, d. h. aufgenommene Kredite massenhaft nicht mehr bedient werden konnten[1] und die darauf bezogenen Optionen den Status von „bad papers“ erhielten.

Neben der Erschließung bzw. Rekapitalisierung der osteuropäischen Märkte als triumphales Beutestück war die Erzeugung des selbstregulierten ‚Kreditkapitalismus’ die brüchige Legitimationsfolie der neoliberalen Ideologie mit ihrem Grunddogma der angeblich stets das soziale Gleichgewicht herstellenden Selbstheilungskräfte des ‚freien’ Marktes. Mit dem jähen und kolossalen Zusammenbruch amerikanischer und in Folge weltweit verteilter Banken und Finanzdienstleistungsunternehmen ist nun ebenso plötzlich die neoliberale Leitideologie des postrealsozialistischen Kapitalismus jämmerlich kollabiert. Statt marktradikaler Konzepte ist nun wieder „not-keyensianischer“ Staatsinterventionismus in ungekanntem Ausmaß angesagt. Wenn es darum geht, von den Kapitaleigentümern angehäufte Massenverluste zu sozialisieren, d. h. auf die Steuerzahler abzuwälzen, wird von den spätkapitalistischen Herrschaftsträgern postwendend ein sofortiger Schwenk zum ‚Staatskapitalismus’ vollzogen. Allerdings ist dieser Strategiewechsel eben nicht das Resultat eines reflektierten Umdenkens, sondern Ausdruck eines aus der augenblicklichen Not erzwungenen ‚Katastrophen-Interventionismus’. Dieser Versuch, die Krise durch ein Bündel von systemimmanenten Notmaßnahmen zu bewältigen, wird aber nicht dazu führen, die zugrunde liegenden Widersprüche der Kapitalreproduktion außer Kraft zu setzen, sondern lediglich dazu, die nun jäh aufgebrochenen Krisen- und Widerspruchspotentiale zu verlagern und tendenziell noch weiter zu vertiefen bzw. zu chronifizieren. Während gerade noch der Abbau der Staatsverschuldung und die Konsolidierung der Haushalte ganz oben auf der regierungspolitischen Tagesordnung stand, werden aktuell gigantische Geldmengen in den Finanzsektor gepumpt, um den völligen Zusammenbruch der nationalen und internationalen Kreditsysteme zu vermeiden und die „notleidenden“ und sich wechselseitig misstrauenden Banken nicht absaufen zu lassen. Allein um den Banken ihre faulen Wertpapiere abzukaufen, hat die neue us-amerikanische Regierung in einem ersten Schritt 500 Milliarden Dollar bereitgestellt. Die Bundesregierung hat eiligst ein Banken-Enteignungsgesetz beschlossen, um als ultima ratio den Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate (HRE) zwangsverstaatlichen zu können. Dabei existiert die HRE nur noch deshalb, weil sie bereits 87 Milliarden Euro Steuergelder erhalten hat und die Bewilligung weiterer 10 Milliarden in Aussicht steht.

Insgesamt betrachtet, sind die Folgen dieses staatskapitalistischen Rettungsinterventionismus auf nationaler und internationaler Ebene recht leicht abzusehen:

1) Das Einpumpen einer gigantischen Masse von Rettungsgeldern in den Banken- und Finanzsektor dürfte mittelfristig die Tendenz  zur Herausbildung einer Hyperinflation anheizen und dadurch die soziale Polarisierung weiter massiv beschleunigen.

2) Aufgrund der enormen Kosten der vermeintlichen Rettung der Banken sowie des Finanz- und Kreditsektors wird zunehmend die Gefahr von Staatsbankrotten nach dem Modell Islands um sich greifen.

3) Der Übergang von „sparsamer“ Haushaltspolitik zu Bewilligung astronomischer Rettungsgelder für die Finanzwirtschaft ruft bereits jetzt auf allen gesellschaftlichen Ebenen „Wir-auch“-Begehrlichkeiten“ hervor, radikalisiert bzw. anarchisiert so den sozialen Gerechtigkeits- und Neiddiskurs und fördert das Umsichgreifen gruppenegoistischer Subventionsabsichten.

Die Krise und der damit objektiv verbundene Kollaps neoliberaler Hegemonie erfordert eine unverzügliche Rekonstruktion fortschrittlich-emanzipatorischer Politik. Grundlage hierfür kann nur eine erneuerte gesamtgesellschaftskritische Theorie sein, welche die Marxschen Einsichten in die Aporie kapitalistischer Systemreproduktion mit herrschaftskritisch-emanzipatorischer Gesellschafts- und Subjektwissenschaft verbindet[2] und gleichzeitig die multipolare Synthese von Kapitallogik und nichtwestlicher Herrschaftskultur als zu begreifende Herausforderung annimmt. Dafür muss allerdings subjektiver Ballast in Form der dysfunktionalen Bindung an überlebte Organisationen und Denkmuster abgeworfen werden.

Der verteilungspopulistischen Orientierung, wie sie von der  kontraproduktiven und desorientierenden „Linkspartei“ repräsentiert wird, hatten wir bereits folgende, ungebrochen gültige und angesichts der Krise noch bedeutsamere Alternative entgegengehalten:

Die ‚verteilungssozialistische’ Orientierung lässt die bestehenden profitlogischen Eigentums- und herrschaftlichen Verfügungsstrukturen unangetastet „und begnügt sich damit, ein größeres Stück vom Gewinnwachstum zu fordern und für die Beibehaltung/Wiedereinführung fordistischer Sozialnormen zu streiten. Aufgrund der grundlegend veränderten kapitalistischen Reproduktionsbedingungen ist diese sozialreformistische Ausrichtung zum einen strategisch zum Scheitern verurteilt, weil ein Entgegenkommen der Kapitalseite – im Gegensatz zur Hochphase des Fordismus – deren veränderten Interessenlage und operativen Handlungsmöglichkeiten widerspricht. Zum anderen bestätigt und verfestigt die sozialreformistische Strategie den Objektstatus der vergesellschafteten Individuen als kommandierte Lohnabhängige, restriktiv kontrollierte Arbeitslose, schonungslos abkassierte Versicherungsmitglieder, ausgelieferte Steuerzahler, entmündigte Konsumenten etc. Demgegenüber muss eine gesellschaftskritische Bewegung auf der Höhe der Zeit primär dafür eintreten, dass die von nachhaltiger Realitätskontrolle ausgeschlossenen Menschen zum Subjekt bzw. bewussten Regulator ihres Vergesellschaftungsprozesses werden. Eine solche Orientierung setzt zunächst den radikalen Bruch mit der kapitalistischen Markt- und reaktivierten Gottesreligion voraus und hätte eine entsprechende ideologiekritische Aufklärungsarbeit zu leisten. Dazu gehört in erster Linie die offensive Auseinandersetzung mit der angeblichen Alternativlosigkeit der kapitalistischen Marktvergesellschaftung und die Widerlegung der apologetischen Gleichsetzungsthese: Marx’ und Engels’ herrschaftskritischer Sozialismusentwurf = „Realsozialismus“/Stalinismus = endgültiges Scheitern emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung.

In praktisch-politischer Perspektive wäre vor allem dem neoliberalen/marktradikalen Privatisierungswahn und damit der Tendenz entgegenzutreten, alle Aspekte der gesellschaftlich-menschlichen Lebenstätigkeit in eine Ware bzw. einen Gegenstand der Mehrwertproduktion zu verwandeln. Dabei geht es nicht nur ‚defensiv’ darum, weitere Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen zu verhindern. Insbesondere wären ‚offensiv’ bereits vollzogene Privatisierungen rückgängig zu machen und in demokratisch kontrolliertes und reguliertes Gemeineigentum zu überführen sowie noch private Dienstleistungssektoren wie das Gesundheitswesen konsequent zu vergesellschaften bzw. zu ‚entmarktwirtschaftlichen’ und damit von kostentreibender profitlogischer Preisgestaltung zu befreien. Auf diesem Feld könnte an die vielfältigen konkreten Alltagserfahrungen der Menschen mit der Verschlechterung und Verteuerung von Post-, Bahn-, Gesundheits- und Energieversorgungsdienstleistungen angeknüpft werden. So hat zum Beispiel die Privatisierung der deutschen Bundesbahn zu beträchtlichen Fahrpreiserhöhungen, Gebrauchswertverschlechterungen wie Verspätungen, Streckenstillegungen, unübersichtlichen Fahrplänen und Tarifen, Abbau von Serviceleistungen sowie zu einem enormen Stellenabbau geführt. Ähnliches gilt für die Post: Auch hier ist eine negative Kombination von Tariferhöhungen, Abbau von Filialen, Verschlechterungen im Zustelldienst etc. zu konstatieren.

Demokratische Vergesellschaftung öffentlicher Dienstleistungen und damit die Durchsetzung markt- und profitwirtschaftsfreier Zonen ist grundsätzlich abzuheben von Verstaatlichung und (Re-)Bürokratisierung. Weder ist die Verbeamtung der Beschäftigten noch eine dominierende Hoheitsgewalt des Staates anzustreben. Die demokratische Regulierung und Kontrolle wäre vielmehr eine Sache der paritätischen Vertretungsorgane der Beschäftigten und Kunden auf der Grundlage einer allgemeinwohlorientierten Satzung mit dem Ziel möglichst kostengünstiger und effizienter Bedarfsdeckung. Damit wäre eine Bresche in die kapitalistische Systemlogik geschlagen und eine modellsetzende Basis für weiterführende Transformationsschritte in Richtung auf eine postantagonistische Gesellschaft geschaffen“ (HINTERGRUND-Redaktion 2004, S. 28f.).

 

Literatur:

 

Galbraith, James: Die Weltfinanzkrise – und was der neue US-Präsident tun sollte. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 11-2008, S. 39-57.

HINTERGRUND-Redaktion: Spätkapitalistische Transformationskrise und der Symmetriebruch zwischen fordistischem Sozialsystem und neoliberaler Reproduktionsstrategie. Was steckt hinter „Hartz IV“? In. HINTERGRUND III-2004, S. 7-29.

Krauss, Hartmut: Zum kritisch-emanzipatorischen Gehalt der Marxschen Theorie als Ausweis ihrer Zukunftsfähigkeit. In: HINTERGRUND IV-2007, S. 19-44.

(I-2009)

 

[1] „Schätzungen gehen von bis zu zehn Millionen (us-amerikanischer, d. Red.) Haushaltungen, die ‚unter Wasser’ geraten sind und von einem fiktiven Vermögensverlust privater Haushalte in der Größenordnung von sechs Billionen Dollar aus.“ (Galbraith 2008, S. 54).

[2] Vgl. Krauss 2007.

 

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